Thomas Ellrott1, Nicola Rosenau1 und Uwe Neumann2
1Institut für Ernährungspsychologie an der Georg-August-Universität Göttingen
Korrespondenzadresse: thomas.ellrott@med.uni-goettingen.de
2Culinary Medicine Deutschland e.V.
Wie und was wir essen ist nicht nur eine wesentliche Determinante von individueller Gesundheit und Wohlbefinden. Die Art und Weise der Ernährung beeinflusst auch wichtige Nachhaltigkeitsaspekte wie Ressourcenverbrauch, Emission von Treibhausgasen und Biodiversität und sie hat erhebliche Auswirkungen auf Kulturlandschaft und Gesellschaft. Wissenschaft und Politik stehen vor der drängenden Herausforderung, Maßnahmen zu erarbeiten, die der ständig wachsenden Weltbevölkerung auch in Zukunft eine gesundheitsfördernde und sichere Ernährung innerhalb der planetaren Grenzen ermöglichen und soziale Ungleichheiten verringern. Weltweite Referenz für einen entsprechenden Lösungsvorschlag ist die Planetary Health Diet der EAT Lancet Commission (2019)[1]. Die lebensmittelbezogenen Ernährungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. (DGE) sind dazu grundsätzlich konkordant (2022)[2]. Dies schließt verbleibende Differenzen u.a. bei den Vorgaben für den Milch- und Fleischkonsum ein.
Beide Empfehlungen stellen die Grundlage für ein Inverted Classroom-Konzept zur Nachhaltigkeitsbildung für das Studium generale[1] dar. Das innovative Lehrkonzept mit Praxisteil im Teaching Kitchen an der Universität Göttingen wurde im Sommersemester 2022 erstmals vom Institut für Ernährungspsychologie an der Georg-August-Universität Göttingen (IfE) in Kooperation mit Culinary Medicine Deutschland e.V. pilotiert. Dabei lernen Studierende aller Fachrichtungen zunächst das Konzept der Planetary Health Diet (PHD) detailliert kennen, das individuelle Gesundheit und globale Nachhaltigkeit gleichzeitig berücksichtigt. Die Vorschläge der PHD werden mit den aktuellen Ernährungsempfehlungen der DGE verglichen und durch einen anwendungsbezogenen Kursteil in der Lehrküche ergänzt, in dem die wesentlichen Prinzipien von zukunftsfähigen Ernährungskonzepten in Musterrezepten illustriert werden. Teilnehmende erhalten 3 Credits (28 Stunden Präsenz, 62 Stunden Selbststudium).
In diesem Kurskonzept wurden gleich drei Lehrinnovationen zusammengeführt. Einmal steht das Kursangebot im Rahmen von Schlüsselqualifikationen allen Studierenden der Universität offen. Zum Zweiten ist das praktische Lernen im Teaching Kitchen mit hohem Anwendungs- und Lebenswelt-Bezug eine wesentliche Lehrmethode und drittens werden die Studierenden im Rahmen des Inverted Classroom-Konzepts deutlich stärker als in klassischen Lehrformaten in die Gestaltung des Lehrangebots involviert.
Seminarinhalte und Praxisteil im Teaching Kitchen
Vor Beginn der praktischen Einheit wird im Rahmen eines einführenden Seminarteils mithilfe von 14 über den Kurszeitraum verteilten Sachthemen zunächst ein wissenschaftlich fundiertes Verständnis für die Grundlagen einer nachhaltigen, gesundheitsfördernden Ernährung innerhalb der planetaren Grenzen geschaffen (Tab. 1).
Ernährungsempfehlungen der DGE | 10 Regeln der DGE im Detail |
Mediterrane Diät und Vegetarische Kostformen | Predimed-Studien u.a. |
Ziele nachhaltiger Ernährung | Sustainable Development Goals u.a. |
Planetary Health Diet | Konzept |
Planetary Health Diet | Vergleich und Kritikpunkte |
Klimawirkung von Lebensmitteln | Berechnung von Treibhausgasemissionen |
Fleischkonsum aus der Nachhaltigkeitsperspektive | Gesundheit, Klima, Umwelt, Soziales, Tierwohl |
Tierische und pflanzliche Lebensmittel im Vergleich | Effekte auf Gesundheit und Nachhaltigkeit |
Vegane Kostformen | Kritische Nährstoffe, Motive, Ersatzprodukte |
Labels und Gütezeichen (Nachhaltigkeit) | Vorstellung und Diskussion |
Bioprodukte Vor- und Nachteile | Produktivität, Erträge, Flächenbedarf u.a. |
Globale Ernährungssicherung | Food System Approach u.a. |
Lebensmittelverschwendung/Lebensmittelabfälle | Möglichkeiten zur Verminderung |
Nachhaltige Ernährung im Alltag | Individualisierte Lösungen der Studierenden |
Tab. 1: Sachthemen im PHD-Kurs
Auf dieser Basis werden Möglichkeiten der Integration einer entsprechenden Ernährungsweise in den Alltag erarbeitet. Dies geschieht unter besonderer Berücksichtigung der zeitlichen und finanziellen Restriktionen, mit denen sich auch Studierende häufig konfrontiert sehen.
Im Anschluss an das Einführungsseminar werden die theoretischen Inhalte von den Studierenden im Teaching Kitchen direkt in konkretes Handeln überführt und abschließend beim gemeinsamen Essen in einem Lehrgespräch diskutiert. Die in der Lehrküche verwendeten Rezepte kommen in verschiedenen Variationen zum Einsatz, deren unterschiedliche Auswirkungen auf Gesundheit, Nachhaltigkeit, aber auch Sensorik und potenzielle Verbraucherakzeptanz herausgearbeitet werden.
Der Inverted Classroom-Ansatz
Die Studierenden erbringen im Rahmen des Inverted Classroom-Ansatzes Referatsleistungen, erstellen wissenschaftliche Poster und bringen eigene Rezepte in das Lehrangebot ein. Die von den Studierenden ausgewählten Rezepte werden im Teaching Kitchen zum einen in der originalen Rezeptur zubereitet. Parallel dazu werden im Reallabor-Ansatz Änderungen an der Rezeptur zur Verbesserung des Nährwertprofils und der Klimabilanz vorgenommen und praktisch ausprobiert. Für die verschiedenen Rezepturen erfolgen sowohl eine Nährwertberechnung (Software: DGExpert) mit Gesundheitsbewertung wie auch eine Berechnung der Klimarelevanz anhand von Kohlendioxid-Äquivalenten (Software: KlimaTeller App). Weitere Aspekte von Nachhaltigkeit wie z.B. der Einfluss auf die Biodiversität, der Wasserverbrauch, das Tierwohl und soziale Gesichtspunkte können aufgrund der extremen Komplexität und der beschränkten Kurszeit in der Lehrküche nicht ausführlich berücksichtigt werden und finden daher nur im theoretischen Rahmen Erwähnung.
Variation klassischer Rezepturen mit dem Ziel der Verringerung klimarelevanter Emissionen
Anhand der Variation eines klassischen Bolognese-Rezepts lässt sich das praktische Vorgehen in der Lehrküche gut illustrieren.
Dieses Rezept stellt ein klassisches Bolognese-Rezept auf der Basis von Hartweizen-Pasta und einer Tomaten-Rindfleischsauce dar, das als Referenz im Kurs zubereitet wird. Zusätzlich werden drei weitere Varianten gekocht, die mit einem niedrigeren Klima-Fußabdruck verbunden sind. In der ersten Variante wird die Hälfte des eingesetzten Rindfleischs durch zusätzliches Gemüse ersetzt. Dies senkt die einer Portion zugeordneten Emissionen von 1580 g CO2-Äquivalenten auf 1071 g. Auch bei der gesundheitlichen Bewertung ergeben sich Vorteile durch eine geringere Menge Fett und gesättigte Fettsäuren, eine niedrigere Energiedichte und einen höheren Ballaststoffgehalt. Die Verringerung des Fleischanteils geht jedoch mit einem geringeren Eiweißgehalt einher.
Variation 1 – Bolognese 50% Hackfleisch: Zutaten (4 Personen) und Emissionsberechnung (pro Portion) in der Klimateller-App
In einer weiteren Variation wird das Hackfleisch vollständig durch zusätzliches Gemüse und Linsen ersetzt. Die Klimateller-App berechnet hierfür 472 g CO2-Äquivalente pro Portion. Auf Nährwertseite enthält das Gericht nochmals geringere Mengen Fett und gesättigte Fettsäuren, eine niedrigere Energiedichte und einen höheren Ballaststoffgehalt. Linsen liefern pflanzliches Protein.
Variation 2 – Bolognese mit Linsen: Zutaten (4 Personen) und Emissionsberechnung (pro Portion) in der Klimateller-App
In der dritten Variation wird das klassische Rezept anstatt mit Fleisch mit pflanzlichem Hackfleischersatz („veganes Hack“) zubereitet. 500 g Rinderhackfleisch werden durch dieselbe Menge Hackfleischersatz ausgetauscht. In der Lebensmitteldatenbank der Klimateller-App gab es (noch) keine entsprechenden Produkte zur Auswahl. Dennoch lässt sich die wahrscheinliche Klimarelevanz recht gut eingrenzen. Die zur Herstellung von pflanzlichem Hackfleischersatz verwendeten quantitativen Grundzutaten sind meist Soja, Erbsen, Weizen, Sonnenblumen- oder Rapsöl sowie Palmfett. In einigen Produkten kommt auch Kokosfett zum Einsatz. Die Klimarelevanz dieser pflanzlichen Zutaten liegt deutlich unter der von Rindfleisch, aber typischerweise etwas über der Bilanz einer Mischung aus Gemüse und Linsen in Variation 2. Daher kann man näherungsweise annehmen, dass die assoziierten Treibhausgas-Emissionen zwischen denen der Linsen-Rezeptur (Variation 2) und denen der 50% Hackfleisch-Rezeptur (Variation 1) liegen. Dies schließt auch den höheren Prozessierungsaufwand ein, der benötigt wird, um aus verschiedenen Zutaten ein pflanzliches Ersatzprodukt herzustellen, das in Textur und Sensorik dem Original möglichst nahekommt. Näherungsweise wird für diese Rezeptur (Variation 3) von 700 g CO2-Äquivalenten pro Portion ausgegangen. Die ernährungsphysiologische Bewertung hängt vor allem von der Art und Menge des eingesetzten Fetts und vom Ballaststoffgehalt ab. Produkte auf der Basis von Sonnenblumen-, Raps- und Palmöl enthalten dabei deutlich weniger gesättigte Fettsäuren als Produkte auf der Basis von Kokosfett.
Das Bolognese-Grundrezept ließe sich optional noch weiter variieren, z.B. durch die Verwendung von Vollkorn-Nudeln oder Nudeln aus Leguminosen.
Culinary Practices
Die Studierenden lernen so im Teaching Kitchen, wichtige Kulturtechniken praktisch anzuwenden. Sie erweitern ihre Kompetenzen für eine nachhaltige und gesundheitsfördernde Nahrungszubereitung, die auch als „Culinary Practices“ bezeichnet werden. Durch die Integration der eigenen Rezepte in das Lehrkonzept entsteht ein enger Bezug zu den direkten Lebenswelten der Studierenden, wodurch der Transfer der Kursinhalte in den Alltag erleichtert wird. Die auf diesem Weg erworbenen Transfer-Kompetenzen befähigen die Studierenden zudem dazu, in ihren zukünftigen Berufen eine gesellschaftliche Multiplikatorenfunktion für die Transformation in Richtung nachhaltiger Ernährungssysteme und Entwicklungsziele (UN Sustainable Development Goals)[3] zu übernehmen.
Grundlagen für die Lehrmethode im Teaching Kitchen wurden bereits ab 2010 von Neumann an der Universität Osnabrück gelegt (Neumann 2017)[4][5]. Durch das neue Lehrangebot im Teaching Kitchen werden die Gesundheits- und Nachhaltigkeitskompetenzen im Ernährungskontext von Studierenden aller Fachrichtungen verbessert und der Transfer in die Gesellschaft gefördert.
Gesunde und nachhaltige Ernährung ist zwar ein wichtiges gesellschaftliches Ziel, allerdings wird dabei oft übersehen, dass nicht Gesundheit und Nachhaltigkeit, sondern Geschmack, Genuss und Lebensfreude sowie der Preis die wichtigsten Motive für individuelle Essentscheidungen darstellen. Hinzu kommt, dass unzureichende praktische Kochfertigkeiten oft eine wesentliche Barriere für die Umsetzung der Prinzipien gesunder und/oder nachhaltiger Ernährung sind. Durch die innovative Lehrmethode im Teaching Kitchen werden genau diese Barrieren adressiert und individuelle Kompromisslösungen ermöglicht.
Kooperationen
Mithilfe einer Projektförderung über die Rut- und Klaus-Bahlsen-Stiftung (Hannover) war es möglich, das beschriebene Kursangebot seit 2021 zu entwickeln und im Sommersemester 2022 zu pilotieren. Im Wintersemester 2022/2023 werden an der Universität Göttingen in Kooperation mit dem Hochschulsport mehrere Planetary Health Diet-Kurse über Schlüsselqualifikationen angeboten[6], die von einer umfangreichen Lehrevaluation begleitet werden. Kooperationen mit anderen Universitäten und eine multizentrische Evaluation sind in Planung. An einer Zusammenarbeit interessierte Hochschulen können gern Kontakt aufnehmen.
Das neue Lehrkonzept wurde im Oktober 2022 auf der Teaching Kitchen Research Conference erstmals international vorgestellt (Rosenau, Neumann und Ellrott 2022)[7]. Culinary Medicine Deutschland e.V. ist gemeinsam mit dem Institut für Ernährungspsychologie seit 1.1.2022 gewähltes Vollmitglied im Internationalen Forschungsnetzwerk Teaching Kitchen Collaborative[8].
Weitere Bildungskonzepte im Teaching Kitchen
Neben dem Planetary Health Diet-Lehrangebot für das Studium generale bieten Culinary Medicine Deutschland e.V. und das Institut für Ernährungspsychologie auch ein spezielles Wahlfach “Culinary Medicine” für Medizinstudierende an der Universitätsmedizin Göttingen an, das die ernährungsmedizinischen Beratungskompetenzen von angehenden Ärztinnen und Ärzten verbessert[9]. Es wird derzeit multizentrisch evaluiert. Auch hier sind Kooperationsanfragen ausdrücklich erwünscht.
Unter dem Titel “Zukunft Schmecken” haben beide Institutionen zusammen mit weiteren Partnern Schülerinnen und Schüler zu DIY-Kochworkshops in das größte Teaching Kitchen auf der Bildungsmesse IdeenExpo 2022 (Hannover) eingeladen, bei denen Nachhaltigkeits- und Gesundheitsaspekte neben praktischen Kochfertigkeiten im Vordergrund standen[10]. Fast 5000 Schülerinnen und Schüler nahmen an den Workshops teil. Zudem wurden Bildungsveranstaltungen im Kontext der Planetary Health Diet für den Verband für Ernährung und Diätetik e.V. (VFED)[11] und Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)[12] angeboten.
Zur Definition des Begriffs “Teaching Kitchen”[2]
Ein Teaching Kitchen ist ein Reallabor zum Erlernen wesentlicher Lebenskompetenzen. Die Teaching Kitchen Collaborative befürwortet keine bestimmte “Diät”, sondern lehrt den Einzelnen – und im weiteren Sinne auch seine Familienmitglieder – auf individueller Basis ein Leben lang gesünder und nachhaltiger zu essen, zu kochen, sich zu bewegen und zu denken (Life Skills).
Auch Aspekte von Nachhaltigkeit und Klimaschutz spielen eine wichtige Rolle. Die Küche selbst ist zwar ein wesentlicher Bestandteil, aber sie ist nur der Lernort, während das in der Küche durchgeführte komplexe Lehrkonzept in Summe die vielfältigen positiven Veränderung bewirkt. Der Begriff “Teaching Kitchen” wird somit sowohl für den Lernort verwendet wie auch für die komplexe Lehrmethode, die an diesem Ort Anwendung findet.
Teaching Kitchen können in der professionellen Ausbildung von z.B. Lehrenden, Gesundheits- oder Ernährungsfachkräften, zum Coaching von Klientinnen und Klienten/Patientinnen und Patienten oder auch in der Community eingesetzt werden. Durch ihren Einsatz als Lehrmethode in der professionellen Ausbildung befähigen sie die Teilnehmenden dazu, in den eigenen Berufen Gesundheits- und Nachhaltigkeitsaspekte wesentlich besser in praktische Lehr-, Beratungs- und Behandlungstätigkeiten einzubringen.
Schließlich ist eine Lehrküche auch ein Ort der Begegnung – ob in einem Krankenhaus, wo Patientinnen und Patienten lernen können, wie man eine chronische Krankheit durch die richtige Ernährung bessern kann, in Schulen und Gemeindezentren, wo Kinder wie auch Erwachsene gemeinsam und mit Freude kochen lernen, in einer Kantine, die den Beschäftigten demonstriert, wie köstlich gesunde und nachhaltige Versionen des Mittagessens sein können, oder auf einem Bauernhof, der die Umgebung mit frischen Produkten versorgt und zeigt, wie man diese zubereitet. Auf diesem Wege tragen Teaching Kitchen auch zur Stärkung von Quartieren und zu sozialer Gesundheit bei [13].
Hinweis: Dieser Beitrag ist eine fortgeschriebene und erweiterte Version der Pressemeldung Planetary Health Diet – Innovatives Inverted Classroom-Lehrkonzept mit Kochkurs für das Studium generale pilotiert des IDW vom 21.10.2022
Literatur
https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(18)31788-4 [1]
https://s.gwdg.de/9bPK3u [2]
https://sdgs.un.org/goals [3]
https://s.gwdg.de/GkN5GI [4]
https://s.gwdg.de/o2kCur [5]
https://s.gwdg.de/9ZQind [6]
https://tkresearchconference.org [7]
https://idw-online.de/en/news787741 [8]
https://idw-online.de/de/news767487 [9]
https://idw-online.de/de/news797861 [10]
https://s.gwdg.de/eGNPUL [11] Video
https://idw-online.de/en/news768763 [12]
https://www.who.int/health-topics/social-determinants-of-health#tab=tab_1[13]
[1] Das Lehrangebot kann über das Zentrum für Sprachen und Schlüsselqualifikationen an der Universität Göttingen von Studierenden aller Fachrichtungen belegt werden
[2] erweitert nach https://teachingkitchens.org