Innovatives Wahlpflichtfach an der Göttinger Universitätsmedizin erstmals im klinischen Abschnitt des Medizinstudiums
Ab Sommersemester 2020 startet das Institut für Ernährungspsychologie; Leitung PD Dr. med. Thomas Ellrott, in Kooperation mit Culinary Medicine Deutschland e.V., an der Universitätsmedizin der Georg August Universität Göttingen das Lehrformat und Forschungsprojekt »Culinary Medicine«.
Durch die großzügige Forschungsförderung der Rut- und Klaus-Bahlsen-Stiftung besteht für die Medizinerausbildung in Deutschland die große und einzigartige Chance, ein solches Modellprojekt als wesentliche Innovation für den Bereich Ernährungsbildung in das zukünftige Curriculum des Medizinstudium zu verankern.
Ernährungsassoziierte Erkrankungen sind weltweit eine der größten Herausforderungen in industrialisierten Gesellschaften. Die direkten Kosten für die Therapie aber auch indirekte Kosten durch Arbeitsausfall u.a. sind immens. Hinzu kommen Einschränkungen und Leid für die Betroffenen. Unzweifelhaft kommt dem Ernährungsverhalten eine zentrale – wenn auch nicht die alleinige – Bedeutung für die Genese solcher Erkrankungen zu. Daher müssen Lösungsansätze entwickelt werden, um ernährungsabhängigen Erkrankungen entgegenzuwirken und gesundheitsförderliches Verhalten zu stärken. Ärztinnen und Ärzte sind wesentliche Multiplikatoren dafür. Dennoch nimmt die Ernährungslehre in Theorie und Praxis im Curriculum der Medizinerausbildung einen vergleichsweise geringen Raum ein. In der Praxis dominiert die Kuration bereits bestehender Krankheiten. Präventive Möglichkeiten werden noch kaum genutzt.
Grundsätzlich gibt es zwei Optionen, Ärztinnen und Ärzte besser auf die ernährungsmedizinische Praxis vorzubereiten: Einmal kann ein entsprechendes Lehrangebot bereits in das Medizinstudium implementiert werden. Alternativ ist es möglich, eine zusätzliche Qualifikation parallel zur Ausübung des Arztberufs im Rahmen einer strukturierten curricularen Weiterbildung zu erwerben.
Für die Fort- und Weiterbildung nach der Approbation hat die Bundesärztekammer in Zusammenarbeit mit den Fachgesellschaften DGEM, DGE und DAEM eine strukturierte curriculare Fortbildung „Ernährungsmedizin“ herausgegeben (letzte Aktualisierung 2015), auf der seither eine Reihe von Kursangeboten deutschlandweit basiert (Biesalski, Bischoff, & Puchstein, 2010).
Im Vergleich dazu ist die Situation im Medizinstudium noch immer unbefriedigend. Ernährungsmedizinische Themen sind zwar durchaus querschnittlicher Inhalt verschiedener Vorlesungen in Vorklinik und Klinik, z.B. Biochemie, Physiologie, Allgemeinmedizin, Innere Medizin, Immunologie, Gastroenterologie, Psychosomatik, Psychiatrie und Psychotherapie. Allerdings fehlt die Einübung von deren praktischer Umsetzung im Studium völlig. Es ist gerade nicht hinreichend, Patienten allein mit Informationen über die für richtig befundene Nährstoffzusammensetzung und den adäquaten Energiegehalt der Kost zu versorgen. Die Translation von derartigen nutritiven Vorgaben in praktisches Handeln kann vom Patienten nicht geleistet werden (Pudel & Westenhöfer, 2003). Das ist eine wesentliche Ursache des sog. Knowledge-Behaviour-Gap. Wissen und Informationen determinieren das Essverhalten des Patienten in der Praxis kaum. Wesentlich entscheidender sind unter free living-Bedingungen die Motive Genuss und Geschmack, Convenience, Gewohnheiten, praktische Fertigkeiten und der Preis. Ratschläge zur Verbesserung des Ernährungsverhaltens müssen daher auf Lebensmittel- und Rezeptebene, nicht aber auf nutritiver Ebene erfolgen, um von den Patienten überhaupt praktisch umgesetzt werden zu können (Ellrott, 2012, 2013). Studierende der Medizin müssten im besten Fall bereits im Studium lernen, all diese Aspekte aufzugreifen und praktisch anzuwenden. Diese Lücke wird durch das Fach Culinary Medicine geschlossen.
Innovation durch Culinary Medicine
Da der Begriff Ernährungsmedizin vor allem die praktischen Aspekte nicht hinreichend abbildet, wurde im angelsächsischen Sprachraum kürzlich der Begriff Culinary Medicine geprägt (La Puma, 2016). Culinary Medicine ist eine spezielle Kombination von Ernährungswissenschaft und Medizin mit praktischer Kulinaristik, damit angehende Ärztinnen und Ärzte zum einen die Grundlagen klinischer Ernährung erlernen, zum anderen aber gleichzeitig erfahren, wie sie ihre Patienten auf der Grundlage von natürlichen Lebensmitteln, praktischer Kochkunst und attraktiven Rezepten motivieren können, ein gesünderes Leben zu führen. Angehende Ärztinnen und Ärzte sind dafür prädestiniert, da sie von Patienten als vertrauenswürdigste Quelle für Gesundheitsinformationen angesehen werden. Zudem haben Ärztinnen und Ärzte bei der Beratung zur Gewichtsabnahme einen signifikanten Einfluss auf den Erfolg der Verhaltensänderung ihrer Patienten (Rieder et al., 2018; Rose, Heller, & Roberto, 2019).
Bei Culinary Medicine geht es nicht darum, strenge Regeln einzuhalten und Verzicht zu üben. Es ist vielmehr wichtig, ein gesundes Mittelmaß zu finden und das Bewusstsein und die Selbstwirksamkeit im Sinne des Salutogenese-Ansatzes von Antonovsky (Wulfhorst & Hurrelmann, 2009) für die eigene Ernährung zu stärken – dann kann gesunde Ernährung zu einem umsetzbaren, genussfreundlichen Lebensprinzip werden. Genuss und Gesundheit werden bei Culinary Medicine ausdrücklich synergistisch und nicht als Kontradiktion verstanden. Culinary Medicine bezieht zudem neben Gesundheit auch verschiedene Aspekte von Nachhaltigkeit und soziale Gemeinschaft als Ziele ein (vgl. UN Sustainable Development Goals (Vereinte Nationen [UN], 2016)) und WHO Social Determinants of Health (World Health Organization Regional Office for Europe, 2003)). Dies deckt sich hervorragend mit den Themenschwerpunkten der Rut- und Klaus-Bahlsen-Stiftung: Gesunde Ernährung, Biologische Medizin/Naturheilkunde, ökologischer Landbau sowie deren Anwendung und Verbreitung, hier durch Ärztinnen und Ärzte als hochgradig einflussreiche Multiplikatoren. Durch eine zusätzliche Pilotierung an weiteren medizinischen Fakultäten – aktuell der Medizinischen Hochschule Brandenburg und der Universitätsklinik der Justus-Liebig-Universität Gießen – wird die formatiere Evaluation des Wahlfaches Culinary Medicine stetig erweitert. Weitere interessierte Universitäten können sich jederzeit dem Evaluationsvorhaben anschließen.
Entwicklung eines Curriculums Culinary Medicine für Deutschland
In den Vereinigten Staaten wird Culinary Medicine nach dem Curriculum „Health meets Food“ des Goldring Center for Culinary Medicine an der Tulane University bereits an mehr als 50 Medical Schools im Rahmen des Medizinstudiums gelehrt (Chae, Ansa, & Smith, 2017; Monlezun et al., 2015; Nicosia, R. Lanzoni, L. & Eisenberg, 2017; Polak et al., 2016; Vanderpool, 2019), auch an Universitäten der Ivy League.
An der Universitätsmedizin Göttingen wird ein Curriculum für einen Kursus in Culinary Medicine mit 28 Lehrstunden (LVS) zusammen mit Studierenden in einem Co-Creation-Ansatz entwickelt und unmittelbar praktisch erprobt (fachliche Einführungen, Rezepturen, Zeitabläufe u.a.). Dies wird unter Berücksichtigung der US-amerikanischen Erfahrungen an der Tulane University geschehen, um ein bestmögliches Curriculum spezifisch für Deutschland neu entwickeln zu können. Auch aktuelle internationale Fachbeiträge zum Konzept von Culinary Medicine werden berücksichtigt (Hirsch et al., 2019; Mauriello & Artz, 2019). Die Gliederung des Curriculums wird sich an den Leitfaden „Ernährungstherapie in Klinik und Praxis“ (LEKuP) anlehnen, der Ende 2019 in einer neuen Fassung veröffentlicht werden soll. Der Leitfaden Ernährungstherapie in Klinik und Praxis wird von mehreren medizinischen Fachgesellschaften gemeinsam herausgegeben. Die Berücksichtigung des LEKuP im Curriculum Culinary Medicine gewährleistet sowohl eine hohe Aktualität wie auch eine breite Zustimmung ernährungsmedizinischer Fachgesellschaften zum Konzept.
Als methodischer Ansatz dient dabei auch das CookUOS-Portfolio, das 2010 im Bereich der Gesundheits-, Ernährungs- und Nachhaltigkeitsbildung für Lehramtsstudenten am Institut für Gesundheitsforschung und Bildung der Universität Osnabrück konzipiert und seit Wintersemester 2011/2012 erfolgreich durchgeführt wurde. Es steht unter dem Leitgedanken „Küche – Kochen – Kompetenz“ und ist international in Lehre und Forschung sichtbar (Lewis & O’Neil, 2018), (Joyce et al., 2018), (Neumann, 2018; Neumann, Gillen, & Behrens, 2016). Die evaluierte interdisziplinäre und interprofessionelle Methode ist skalierbar und lässt sich bei gleichem lerntheoretischem Bezug für die Aus- und Weiterbildung im medizinischen Lehr- und Tätigkeitsfeld adaptieren.
Dazu bieten sich z.B. bestehende Module mit ProblemOrientiertem und fächerübergreifendem Lernen (POL) oder Qualifikationslinien wie sie z.B. in den Modulbeschreibungen des Modellstudienganges Humanmedizin aufgeführt sind, an. Als Beispiele können die Module „Arzt, Patient, Gesellschaft“ und „Neue Medien, Kommunikation und Didaktik“ (Charité – Universitätsmedizin Berlin, 2013; RWTH Aachen, 2018) genannt werden.
Pilotierung und Evaluation an der Universitätsmedizin Göttingen
Das neu entwickelte Curriculum Culinary Medicine wird an der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) jeweils zwei Semester nacheinander (SS 2020 und WS 2020/21) im klinischen Teil des Medizinstudiums als Wahlfach durchgeführt und parallel evaluiert. Dabei sollen auch Gelingensbedingungen und mögliche Indikatoren zur erfolgreichen Umsetzung einer ausgerichteten nachhaltigen und gesundheitsfördernden Ernährung identifiziert werden.
Die wissenschaftliche Gesamtleitung und -verantwortung des Modellprojektes liegen beim wissenschaftlichen Leiter des Instituts für Ernährungspsychologie an der Georg-August-Universität Göttingen/Universitätsmedizin (gleichzeitig wissenschaftlicher Leiter von Culinary Medicine Deutschland e.V.) PD Dr. med. Thomas Ellrott und dem Vorstandsvorsitzenden des Vereins Culinary Medicine Deutschland e.V. Uwe Neumann.
Für die Durchführung werden Projektteams gebildet, welche aus jeweils zwei studentischen und wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen der Dr. Rainer Wild Stiftung für gesunde Ernährung sowie je einer speziell geschulten Köchin/Koch und je einer Dozentin/Dozenten für die einführenden interdisziplinären Vorlesungen bestehen. An den Kurstagen gibt es zunächst eine kurze theoretische Einführung in das Thema durch die Dozentin/den Dozenten, danach wird in der Lehrküche praktisch gekocht. Die Inhalte des praktischen Teils sind jeweils auf die theoretische Einführung der Kurstage abgestimmt. Zum Kurs gehört auch eine Exkursion oder ein Aktionstag pro Semester. Im Rahmen einer Exkursion können z.B. Forschungsinstitute, ökologische Betriebe, Caterer, Betriebsrestaurants oder Medien besucht werden, die sich mit entsprechenden Gesundheits- und Nachhaltigkeitsthemen befassen. Alternativ gestalten die Studierenden am Ende jedes Semesters einen Aktionstag, der der lokalen Kommunikation und Vernetzung des Projekts dient. Das Curriculum wird während des Piloteinsatzes von einer umfangreichen Lehrevaluation begleitet (vgl. Jaroudi et al., 2018). Für das US-amerikanische Curriculum konnte eine Verbesserung des Ernährungswissens der Studierenden, ein höheres Vertrauen in die eigenen Beratungsfertigkeiten bei Lebensstil-Erkrankungen sowie eine Verbesserung der kulinarischen Fertigkeiten unlängst bestätigt werden (Pang et al., 2019).
Bessere praktische Kochfertigkeiten gehen typischerweise mit einer gesünderen Ernährungsweise einher, wie auch anhand der NVS II gezeigt werden konnte (Ernährungsbericht, 2012). Somit profitieren die teilnehmenden Studierenden auch direkt selbst vom Projekt. Dies ist mit einer höheren Motivation verbunden, auch Patienten zu ihrem Gesundheitsverhalten zu beraten (Frank, 2004). Die Teilnahme an Kursen zur Ernährungsbildung erhöht das Vertrauen der Ärztinnen und Ärzte in ihre Beratungskompetenz. Sie sprechen Patienten nachfolgend deutlich häufiger auf Ernährungsthemen an (Kaplan et al., 2013) Von Culinary Medicine profitieren somit synergistisch sowohl die angehenden Ärztinnen und Ärzte wie auch deren Patienten.
Die nachfolgende zeigt die Struktur des Kursangebotes Culinary Medicine im Überblick. Die Lehrformate Vorlesung, Seminar, Übung und Umsetzung sind in das Curriculum integriert.
Indikationsbezogene Module von Culinary Medicine (Göttinger Modell)
Die praktischen Kochkurse in Form einer “Teaching Kitchen” haben einen direkten Bezug zu den im evidenzbasierten Leitfaden Ernährungstherapie in Klinik und Praxis (LEKuP) veröffentlichten Indikationsgruppen und Kostformen und werden durch passende Fallbeispiele ergänzt.
- Vollkostformen/gesunde Ernährung (inkl. Prävention)
- Mangelernährung
- Ernährungstherapie bei Stoffwechsel und Herz-Kreislauf-Krankheiten I
- Ernährungstherapie bei Stoffwechsel und Herz-Kreislauf-Krankheiten II
- Ernährungstherapie bei gastroenterologischen Erkrankungen
- Ernährungstherapie bei Nierenkrankheiten und Harnsteinen
- Ernährungstherapie bei entzündlich-rheumatischen, orthopädischen und neurologischen Krankheiten
Es wird eine komplette Dokumentation des Curriculums Culinary Medicine inkl. Videoanleitungen erstellt und kosten- bzw. lizenzfrei für andere Universitäten zur Verfügung gestellt. Dieses ist ausdrücklich von der Rut und-Klaus-Bahlsen-Stiftung erwünscht und Konsens des Projektteams. Es ist zudem Voraussetzung für eine nachfolgende breite Anwendung von Culinary Medicine an deutschsprachigen Universitäten.